Die Sicht eines russischen Präsidenten: Zum Artikel 75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft des russischen Präsidenten Wladimir Putin

Die Sicht eines russischen Präsidenten

Zum Artikel „75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft“

des russischen Präsidenten Wladimir Putin

Annegret Mainzer, Zerbst

Es sind 75 Jahre vergangen, seit der Große Vaterländische Krieg beendet wurde. In diesen Jahren sind mehrere Generationen aufgewachsen. Die politische Karte des Planeten hat sich geändert. Es gibt die Sowjetunion nicht mehr, die einen grandiosen, vernichtenden Sieg über den Nazismus errungen und die ganze Welt gerettet hatte. Und die Ereignisse des Krieges selbst sind sogar für seine Teilnehmer eine ferne Vergangenheit geworden. Warum wird der 9. Mai in Russland als der wichtigste Feiertag begangen, und scheint das Leben am 22. Juni für einen Moment still zu stehen und man hält den Atem an, als hätte man einen Kloß im Hals?“

Mit diesen Worten beginnt Wladimir Putin, Präsident der Russischen Förderation, seinen gut fünfzehn A4-Seiten umfassenden Grundsatzartikel 75. Jahrestag des Großen Sieges: Gemeinsame Verantwortung vor Geschichte und Zukunft, der am 19. Juni d. J., sozusagen am Vorabend des 79. Jahrestages des Überfalls Hitlerdeutschlands auf die Sowjetunion, veröffentlicht wurde.

Blick auf Moskauer Kremlgelände

Sehr detailliert und fundiert geht darin der russische Präsident in seinen eloquenten Ausführungen unter anderem nicht nur darauf ein, welche Folgen der 2. Weltkrieg für seine Familie hatte, er versucht auch aufgrund seines gründlichen Studiums historischer Quellen, darzulegen, welche Rolle der Völkerbund nach dem 1. Weltkrieg spielte und wie sich die Prophezeiung von Jean Marie Ferdinand Foch (1851-1929), Marschall von Frankreich, bezüglich des Versailler Vertrages bewahrheitete, der meinte, der Versailler Vertrag sei kein Frieden, sondern ein Waffenstillstand auf zwanzig Jahre.

In seinen Bemerkungen zu den unheilvollen Folgen des Versailler Vertrages und anderer Ereignisse und Abkommen in der Zeit vor und während des 2. Weltkrieges betont Präsident Putin allerdings, dass es ihm fern liege, die einstigen Ereignisse zu bewerten oder richten.

Ich schreibe das ohne die geringste Absicht, die Rolle eines Richters zu übernehmen, jemanden zu beschuldigen oder zu rechtfertigen oder gar eine neue Runde der internationalen Informationskonfrontation im historischen Bereich loszutreten, die Staaten und Völker gegeneinander aufbringen kann. Ich bin der Meinung, dass die Suche nach ausgewogenen Bewertungen vergangener Ereignisse der akademischen Wissenschaft mit einer breiten Vertretung namhafter Forscher überlassen werden sollte. Wir alle brauchen Wahrheit und Objektivität. Ich persönlich habe meine Kollegen immer zu einem ruhigen, offenen und vertrauensvollen Dialog aufgefordert, zu einem selbstkritischen und unvoreingenommenen Blick auf die gemeinsame Vergangenheit. Ein solcher Ansatz wird es uns ermöglichen, die damals begangenen Fehler nicht mehr zu wiederholen und eine friedliche und erfolgreiche Entwicklung für die kommenden vielen Jahre sicherzustellen.“

Nicht nur historische Ereignisse hinterfragt Präsident Putin in seinem Artikel wie das Verhalten und Handeln sowjetischer, polnischer, deutscher und anderer europäischer Politiker in jener verhängnisvollen Zeit, er stellt sich auch die Frage: „Wie würde sich die jetzige Generation in einer kritischen Situation benehmen und handeln?“ – Eine sehr interessante Frage, vor allem für mich als ausgebildete Pädagogin mit langjähriger praktischer Erfahrung. Wenn man unsere heutige, augenscheinlich nomophobisch veranlagte Jugend auf den Straßen sieht, ist es schwer vorstellbar, auf die Frage zu antworten, wie verhalten sich diese jungen Menschen in Situationen kriegerischer Auseinandersetzung oder einer 900-tägigen Blockade wie die von Leningrad? Präsident Putin beantwortet diese Frage optimistisch und lenkt dabei den Blick auf junge Menschen, die an Brennpunkten im Einsatz sind:

Vor meinen Augen sind junge Ärzte, Krankenschwestern, manchmal gestrige Studenten, die heute in die „rote Zone“ gehen, um Menschen zu retten. Unsere Militärangehörigen, die während des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus im Nordkaukasus, in Syrien um Leben und Tod kämpfen – ganz junge Menschen! Viele Soldaten der legendären, unsterblichen sechsten Fallschirmjägerkompanie waren 19 bis 20 Jahre alt. Sie haben aber gezeigt, dass sie der Heldentat der Soldaten unserer Heimat, die sie im Großen Vaterländischen Krieg verteidigten, würdig sind.“.

Des Weiteren distanziert sich Präsident Putin eindeutig von einer Umschreibung der Geschichte und vom Vergessen der Lehren, die die Menschen aus vergangenen Ereignissen gezogen haben.

Das Vergessen der Lehren aus der Geschichte wird unweigerlich hart bestraft. Wir werden die Wahrheit auf der Grundlage dokumentierter historischer Fakten entschlossen verteidigen und auch weiterhin ehrlich und unparteiisch über die Ereignisse des Zweiten Weltkriegs sprechen. Diesem Ziel soll auch ein russisches Großprojekt zur Schaffung der größten Sammlung von Archivdokumenten, Film- und Fotomaterialien über die Geschichte des Zweiten Weltkriegs und der Vorkriegszeit dienen.“

Auch die Probleme der Gegenwart lässt Präsident Putin nicht unerwähnt und macht deutlich klar, dass diese nur in der Gemeinschaft gelöst werden können. Bezüglich der Corona-Pandemie schreibt er:

Unsere Länder ergreifen beispiellose Maßnahmen, um die Gesundheit und das Leben der Menschen zu schützen und die Bürger zu unterstützen, die sich in einer schwierigen Situation wiederfinden. Wie schwerwiegend die Folgen der Pandemie sein werden, wie schnell die Weltwirtschaft aus der Rezession herauskommt, hängt von unserer Fähigkeit ab, als echte Partner zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus ist es unzulässig, die Wirtschaft zu einem Instrument des Drucks und der Konfrontation zu machen. Zu den aktuellsten Themen zählen der Umweltschutz und der Kampf gegen den Klimawandel sowie die Gewährleistung der Sicherheit des globalen Informationsraums.“

Abschließend verweist Präsident Putin auf die von Russland vorgeschlagene Agenda des bevorstehenden Fünfergipfels.

Putins Schlussworte:

Auf der Grundlage unseres gemeinsamen historischen Gedächtnisses können und müssen wir uns gegenseitig vertrauen. Dies wird als solide Grundlage für erfolgreiche Verhandlungen und konzertierte Maßnahmen zur Stärkung der Stabilität und Sicherheit auf dem Planeten sowie für den Wohlstand und das Wohlergehen aller Staaten dienen. Dies ist – ohne Übertreibung – unsere gemeinsame Pflicht und Verantwortung gegenüber der ganzen Welt, gegenüber den gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen.“

Ziel meines vorliegenden Beitrages ist es nicht, die einzelnen Aussagen Putins zu analysieren, sondern zur Lektüre seines Artikels anzuregen sowie zu einer anschließenden Diskussion im Freundes-, Familien- oder Kollegenkreis.

Link zum vollständigen Artikel:

http://kremlin.ru/events/president/news/63527

oder

http://en.kremlin.ru/events/president/news/63527

Foto: A. Mainzer, 2017

Zerbst, 22.06.2020